Interview
zum Thema Tariflohnpflicht
sw-magazin:
Sie befürworten eine Art Tariflohnpflicht, also die
Gültigkeit der Flächentarife auch für nicht
organisierte Betriebe. Würde dadurch das Lohnniveau nicht auf
breiter Front steigen?
Müller: Ja, genau das ist auch beabsichtigt!
sw-magazin: Ihnen ist doch wohl bewusst, dass viele Firmen
Tariflöhne gar nicht zahlen können und dann schließen
müssten? Die Arbeitslosigkeit würde durch die Ausweitung
der Flächentarife also ansteigen.
Müller: Ich frage zurück: Wollen Sie die
Marktwirtschaft, ja oder nein? Wenn Sie für die Marktwirtschaft
sind, können Sie auf Dauer schlecht geführte Firmen nicht
dadurch retten, dass Sie ihnen Sonderrechte einräumen und
Subventionen zuschanzen. Am Ende würden die gehätschelten
kranken Betriebe die gesunde Konkurrenz in Bedrängnis
bringen.
Marktwirtschaft funktioniert nur, wenn faire und gleiche Bedingungen
herrschen. Insofern ist auch das Arbeitsplatzargument irreal.
Letztlich ist es doch egal, ob Firma A oder B etwas produziert oder
verkauft. Wenn z. B. Holzmann Pleite macht, treten andere Baufirmen
an dessen Stelle.
sw-magazin: Aber durch die generelle Gültigkeit des
Flächentarifes würde doch der Industriestandort Deutschland
weiter geschwächt.
Müller: Auch das ist richtig. Aber die Probleme der
Globalisierung lassen sich langfristig sowieso nicht durch
Lohnzurückhaltung lösen. Diese falsche Bescheidenheit
zeichnet verantwortlich dafür, dass die wahren Hintergründe
der Schwierigkeiten weiter verschleiert werden. Die Politik schummelt
sich auf diese Weise nur durch und schiebt die wahren Probleme vor
sich her.
sw-magazin: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken
ohne Ende?
Müller: Eine drastische Formulierung, aber im Prinzip ist
sie richtig. Wegen der gewaltigen Lohnunterschiede - ein deutscher
Angestellter verdient etwa das Fünfzigfache wie ein ebenso
qualifizierter tüchtiger Chinese - steuern wir langsam aber
sicher der Apokalypse entgegen. Wir können unser Lohnniveau
nicht beliebig herunterschrauben, weil dann die Bevölkerung und
der Staat den finanziellen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen
können.
Die Staatsverschuldung pro Einwohner ist in Deutschland etwa
hundertmal höher als in China, die Staatskosten pro Bürger
(Verwaltung, Ausbildung, Sozialwesen, Infrastruktur) kosten hier auch
mindestens das Zehnfache - wir können in Deutschland angesichts
dieser Erblasten nicht zu chinesischen Bedingungen produzieren.
Gleichsam dürfen wir nicht darauf hoffen, dass die Löhne in
China oder Indien sich unserem Niveau bald annähern. Angesichts
der immer deutlicher zu Tage tretenden Diskrepanzen bei den
Produktionskosten können wir uns nach alter Manier vielleicht
noch zehn Jahre durchmogeln - dafür ist der Zusammenbruch dann
um so schrecklicher. Eines Tages werden die Staatseinnahmen drastisch
einbrechen und die Arbeitslosenzahlen rasant ansteigen.
sw-magazin: Was also schlagen Sie vor?
Müller: Die Marktwirtschaft kann nur gedeihen bei fairen
und gleichen Verhältnissen. Diese aber sind wegen des
unvernünftigen Abbaus der Zollgrenzen nicht mehr vorhanden.
Was wir brauchen, sind also zunächst einmal Mechanismen zum
Ausgleich ausländischer Standortvorteile. Wir benötigen
eine solide gerechte Basis für das inländische
Unternehmertum, in dem auch Kleinunternehmer und Freiberufler wieder
eine echte Chance haben.
Ein wichtiger Baustein für diese faire Basis ist der
Flächentarif. Aber es gibt viele Dinge, die ebenfalls korrigiert
werden müssen, um den unseligen Verdrängungswettbewerb der
Konzerne und Filialisten und den Trend zur Monopolisierung
umzukehren.
sw-magazin: Was also müsste noch in Angriff genommen
werden?
Müller: Es bringt wenig, einzelne Punkte herauszugreifen.
Die entscheidenden Maßnahmen habe ich bereits genannt, aber
erst in ihrer Gesamtheit machen alle Schritte einen Sinn und bilden
ein vernünftiges Fundament. Um die Notwendigkeit der Reformen
einzusehen, bedarf es Verständnis für die komplexen
Zusammenhänge der Weltwirtschaft, das bislang leider nur
spärlich vorhanden ist.
Es macht wenig Sinn, an dieser Stelle alle Versäumnisse
aufzuzählen und zu erläutern. Ich verweise daher auf mein
jüngst erschienenes Taschenbuch "Der Freihandelswahn". Hier
wurde auf 80 Seiten das Wesentliche übersichtlich geordnet und
leicht verständlich zusammengefasst. Wer dieses Buch gelesen
hat, weiß worauf es jetzt ankommt und wird kaum noch offene
Fragen haben.
sw-magazin: Herr Müller, wir danken Ihnen für das
Gespräch!
Im Mai 2012 wurde in Deutschland nur noch jeder zweite Arbeitnehmer nach Branchentariflohn gezahlt. Früher war das anders: Bereits in der Weimarer Republik galt die Tariflohnpflicht. |
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Anmerkung:
Der Sinn einzelner Thesen erschließt sich oft erst im
Zusammenhang mit anderen Artikeln des Autors. In einem einzelnen
Aufsatz können nicht jedesmal alle Hintergründe und
Grundsatzüberlegungen erneut eingeflochten werden.
Bücher
von Manfred J. Müller
Man
kann nicht ständig das, was der normale Menschenverstand und die
Mehrheit der Bevölkerung für gut und richtig befinden, als
rechten Populismus abtun. Täte man dies, wäre nur noch eine
gegen das Volk gerichtete Politik legitim. Das wäre jedoch eine
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